DER INZEST

Definition

Inzest betrifft die Blutsfamilie und die erweiterte Familie, sowie die Adoptivfamilie. Aber der familiäre Bezug ist für die Opfer vor allem ein Bezug der Nähe, der Autorität, des Vertrauens, der Abhängigkeit und der Liebe. So können die Täter in der Blutsfamilie Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Grossvater, Grossmutter, Onkel, Tante, Cousin (…), Cousine sein, und in der Stief- oder Adoptivfamilie: Stiefvater, Stiefmutter, Stiefonkel, Stieftante, etc. Selbst ein Altersunterschied von einem Jahr kann zwischen Minderjährigen ausreichen, um einen Bezug der Autorität herzustellen.

Körperlich kann Inzest eine Vergewaltigung sein, also jeder Akt der Penetration durch den Mund (Fellatio), den Anus (Sodomie), die Vagina, der mit einem Körperteil der Täter*innen (Finger/Penis) oder mit einem Gegenstand durchgeführt wird. Inzest kann auch die Form einer sexuellen Belästigung annehmen, bei der die Täter*innen ihren Körper dazu benutzen, um sexuelle Befriedigung zu erlangen, indem sie den Körper des Kindes berühren (gegen das Kind reiben, Cunnilingus, Masturbation). Das Kind kann gezwungen werden, den Täter*innen masturbatorische Handlungen zu ermöglichen und sie zu küssen oder zu berühren, wenn sie es verlangen.

 
Inzest ist auch alles, was mit sexueller Exhibition zu tun hat, oder moralischer Inzest oder Inzest ohne körperlichen Kontakt. Dazu gehören auch Handlungen wie Sex vor dem Kind haben, nackt herumlaufen, sexuelle Äusserungen machen, mit dem Kind zusammen Pornofilme anschauen. Das Kind als Vertrautensperson für sexuelle Abenteuer benutzen, oder es nackt oder in erotischen Situationen fotografieren sind ebenfalls teil des Geltungsraums von Inzest.
 
Inzest ist auch, wenn jemand unter dem Vorwand der Hygiene seine Triebe befriedigt, indem er zu häufig die Vulva wäscht, den Penis wiederholt zurückstreift, unnötig die Temperatur misst, mehrmals am Tag Einläufe macht usw., und das bis ins hohe Alter des Kindes, in einer Beziehung, in der das Kind ein Sexobjekt ist.
Definition der Vereinigung Face à l’inceste, zitiert in Brey Iris (2022), Inzestkultur, Pädokriminalkultur, in: Brey Iris und Drouar Juliet (Hrsg.), Inzestkultur, Paris: Éditions du Seuil (Points), S. 13-14
Schweigpflicht und Verleugnung

In jeder menschlichen Gesellschaft ist Inzest ein Tabu. Allerdings variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft, was als Verwandtschaft und damit als Inzest gilt. Laut dem Anthropologen Maurice Godelier ist die Vereinigung der materiellen (Blut, Fleisch, Sperma, Haut) und immateriellen (Familienname) Bestandteile durch sexuelle Vereinigung verboten, da ein solcher Überschuss an Ähnlichkeit schlimme Folgen für die Betroffenen, ihre Angehörigen, aber auch für die Reproduktion des allgemeinen gesellschaftlichen Ordnungsgefüges, ja sogar für das Universum haben könnte. Es handelt sich um eine Spannung zwischen der biologischen Blutsverwandtschaft auf der einen Seite und dem Mangel an Vielfalt und der Erweiterung sozialer Beziehungen auf der anderen Seite. Inzest wird in wissenschaftlichen Kreisen als Ausnahmefall theoretisiert, der niemals vorkommen sollte, da er universell und einseitig verboten ist.

Allerdings hat dieses Tabu in Bezug auf die Analyse der strukturellen Machtverhältnisse einen anderen Nutzen für das Funktionieren unserer Gesellschaften: Es dient vor allem dazu, die tatsächlichen Praktiken des Inzests zu verschleiern und zu verbergen, obwohl paradoxerweise die Prävalenzrate sehr hoch ist. Inzest ist also überall, in allen Milieus und zu allen Zeiten. Letztendlich ist es keine Ausnahme, sondern eher die Regel.

Dieses Tabu und diese Leugnung hindern die Opfer daran, sich zu äussern. Im Falle einer Enthüllung wird ihnen manchmal nicht geglaubt, ihre Aussagen werden angezweifelt, sie werden beschuldigt, ihre Umgebung zu zerstören, da dies im kollektiven Bewusstsein immer noch als schreckliche und marginale Praxis betrachtet wird. Letztendlich, wie Dorothée Dussy feststellt:

Die soziale Ordnung duldet Inzest, verbietet aber, darüber zu sprechen.
Die schmerzhafteste und lautloseste Stille ist oft die der Familie. Die Person, die den Inzest aufdeckt, wird als Verräter*in wahrgenommen. Es ist unvorstellbar, dass sexuelle Missbrauchstäter*innen zum Familienkreis gehören. Daher bemüht sich jedes Familienmitglied, die Schweigepflicht aufrechtzuerhalten, und zwar nach meist stillschweigenden Regeln. Letztendlich ziehen viele Familien es vor, die Fassade zu wahren, anstatt die Kinder zu schützen. Die Stärke dieses Schweigens ist so gross, dass laut einigen Studien der Inzest oft über mehrere Generationen und in verschiedenen Familienzweigen vorkommt und sich somit über die Zeit fortsetzt.
 
Es ist ein ganzes System, das in den Familien strukturiert ist und das Sie zum Schweigen anhält. Und dann wird Ihnen beigebracht, dass Sie niemand hören will, wenn Sie sprechen.
 
Die Position und der Weg der Opfer sind daher sehr kompliziert, sowohl im Familienkreis als auch im Gerichtsverfahren. Leugnung, Mangel an greifbaren Beweisen, partielle traumatische Erinnerungen, Isolation, sekundäre Viktimisierung, Verleumdung, soziale Drucksituationen sind alles Faktoren, die eine bedingungslose und effektive Betreuung dieser Situationen, ob es sich nun um Kinder oder Erwachsene handelt, die Opfer von Inzest sind, erschweren.
Zahlen
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Vereinten Nationen (UN) wurden 18.9% der Frauen und 14.8% der Männer vor ihrem 18. Lebensjahr Opfer sexueller Gewalt. Das tatsächliche Ausmass dieser Verbrechen ist wahrscheinlich noch grösser, da es schwierig ist, Daten zu sammeln.
 
In der Schweiz gibt es keine Bundesstudie oder offiziellen Bericht über den Ausmass von Inzest. Die Polizeistatistiken, die jährlich rund 350 Anzeigen von sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Familienangehörige verzeichnen, erfassen nur die Straftaten. Laut einer Prävalenzstudie in Frankreich ist weltweit jedes zehnte Kind Opfer von Inzest. Die Fachleute sind sich einig, dass dieser Prozentsatz in der Schweiz ähnlich ist. Dies deckt sich mit der Studie der Stiftung Optimus (2012), die schätzt, dass 2 bis 3 Kinder pro Klasse Opfer von sexuellem Missbrauch sind und dass 9% dieser Übergriffe von Familienangehörigen ausgehen.
 
Die eklatante Diskrepanz zwischen der Anzahl potenzieller Opfer (1 Kind von 10) und der Anzahl jährlicher Beschwerden (350) sollte uns als Gesellschaft alarmieren und beunruhigen. Das bedeutet, dass die meisten Opfer nicht versorgt werden und die Folgen eines solchen Traumas weiterhin ihre Entwicklung im Erwachsenenalter beeinflussen werden. Cagnet Jack et al. (2025). Prevalence of sexual violence against children and age at first exposure; a global analysis by location, age, and sexe (1990-2023),The Lancet, Vol. 405, N°10492, pp. 1817-1836.
Strafgesetzbuch
Art. 213 des Schweizerischen Strafgesetzbuches besagt, dass sexuelle Handlungen zwischen Vor- und Nachkommen oder zwischen Voll-, Halb- oder Stiefgeschwistern mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Minderjährige, die verführt wurden, werden nicht bestraft.
 
Historisch gesehen ist das Verbot von Inzest also mit biologischen Fragen und dem damit verbundenen Risiko von Inzucht verbunden. Rechtlich gesehen werden inzestuöse Praktiken als „Verbrechen oder Vergehen gegen die Familie“ und nicht als „Straftaten gegen die sexuelle Integrität“ im Kontext der Familie und des damit verbundenen Machtverhältnisses betrachtet.
 
„Sexuelle Handlungen“ werden in diesem Zusammenhang als „natürliche Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane“ definiert. Homosexuelle Beziehungen und alle anderen sexuellen Handlungen (z. B. Liebkosungen, Oralverkehr, Sodomie) sind von dieser Definition nicht erfasst. Zudem wird in der Gesetzgebung die biologische Nähe des Sexualpartners bestraft, nicht der Missbrauch der sexuellen (physischen, psychischen und moralischen) Integrität des Kindes.
 
Dieser biologische Fokus berücksichtigt gesellschaftliche Entwicklungen und das Konzept der adoptierten, erweiterten und gemischten Familie nicht.
 
Schliesslich ist Inzest keine sexuelle Straftat wie jede andere. Das Machtverhältnis, das mit dem familiären Kontext verbunden ist, erfordert eine spezifische rechtliche Anerkennung, die noch nicht in die Straftaten gegen die sexuelle Integrität im geltenden Strafrecht integriert ist.
 
Wie der Bericht der CIIVISE (Unabhängige Kommission für Inzest und sexuelle Gewalt gegen Kinder) zu Recht feststellt, „ist Inzest auch das, was man als genealogisches Verbrechen bezeichnet, eine Negation der Abstammung und der Identität des Kindes“.
 
Die Vorstellung, dass ein Kind von einem Erwachsenen aus der eigenen Familie verführt werden könnte, negiert das Machtverhältnis zwischen den beiden und die daraus resultierende Schweigepflicht. So hat Leonore Porchet (Grüne/VD) im März 2021 im Nationalrat eine Motion mit dem Titel „Inzest ist keine Verführung!“ eingereicht, mit der die Vorstellung der Verführung im Artikel 213 (Absatz 2) des Strafgesetzbuches abgeschafft werden soll. Die Idee, Inzest als sexuelle Straftat gegen ein Familienmitglied in einem Machtverhältnis zu erkennen, macht Fortschritte.
Bibliografie
Brey Iris et Drouar Juliet (Eds), La culture de l’inceste, Paris : Éditions du Seuil (Points)Cagnet Jack et al. (2025). Prevalence of sexual violence against children and age at first exposure; a global analysis by location, age, and sexe (1990-2023),The Lancet, Vol. 405, N°10492.

Cée Cécile (2024). Ce que Cécile sait. Journal de sortie d’inceste. Paris: Marabout.
CIIVISE (2023). Violences sexuelles faites aux enfants. „On vous croit“ (synthèse). Paris.
Dussy Dorothée (2021, 1e ed ). Le berceau des dominations. Anthropologie de l’inceste. Paris : Pocket.
Godelier Maurice (2021). L’interdit de l’inceste à travers les sociétés. Paris : CNRS éditions.
Optimus Etude (2012). Violences sexuelles envers des enfants et des jeunes en Suisse. Formes, ampleur et circonstances du phénomène. Zurich : UBS Optimus Foundation.
Pudlowski Charlotte (2021). Ou peut-être une nuit. Paris : Grasset.
RTS (2023), Au moins 350 enfants sont victimes d’incestes chaque année en Suisse. www.rts.ch/info/suisse/11932459-au-moins-350-enfants-sont-victimes-dincestes-chaque-annee-en-suisse.html
RTS (2023). La Suisse mal équipée face à la tragédie de l’inceste. www.rts.ch/info/suisse/14361792-la-suisse-mal-equipee-face-a-la-tragedie-de-linceste.html